Aquariumuhrvon Anna Posch
Ich liege im Bett. Schmerzen. Tick. Das einzige, was ich hören kann, ist das laute Ticken der Uhr, das jede Sekunde ertönt. Tick. Es gibt Uhren die Tick Tack machen, hin und her. Aber meine nicht. Tick. Es tickt immer gleich. Und ich wünschte, es würde endlich aufhören.
Ich dachte immer, andere Leute bekommen Krebs. Nicht ich. Aber man denkt nie, dass man selbst betroffen sein könnte, bevor etwas passiert. Warum heißt Krebs Krebs? Darüber denke ich viel nach. Angeblich, weil Brusttumore wie Krebsbeine aussehen. Meiner Meinung nach kein nachvollziehbarer Grund, eine Krankheit wie ein Tier zu benennen. Krebs ist manchmal unscheinbar und bleibt unbemerkt, aber trotzdem fatal. Es gibt keine Ähnlichkeit, denn bei Krebsen ist das genau umgekehrt: vor denen muss man keine Angst haben. Ich weiß das, früher hatte ich einen. Ein auffallend blau-schwarz gestreifter Einsiedlerkrebs mit graurosa Haus bewohnte das Aquarium in meinem Zimmer. Er war etwa so groß wie mein kleiner Finger und mir ausdrücklich unsympathisch. Ich hatte ihn nach meiner Diagnose gekauft. Vielleicht um zu sehen, wer es länger schaffen würde, oder, ob wir uns anfreunden würden. Ich nannte ihn Krebs, weil mir nichts besseres einfiel. Das ist aber nicht weiter schlimm, denn ich glaube nicht, dass Krebse überhaupt Emotionen haben. Und wenn sie das haben, ist es mir egal. Meinem Krebs sind meine Emotionen schließlich auch egal. Krebs lebte im Wasser, parkte sein Haus meistens in einer Ecke des Aquariums und tat nicht viel außer zeitweise ein bisschen herumzukriechen. Eigentlich sind Krebse Beobachtungstiere, aber ihm zuzuschauen war langweilig und machte mich aggressiv. Ich hasste diesen Krebs.
Tick. Diese Uhr ist zu laut. In der Vergangenheit hat ihr konstantes Ticken mich manchmal beruhigt, aber heute nicht, eher das Gegenteil. Tick. Die Gliederschmerzen sind fast nicht auszuhalten. Ich kann nicht gut atmen. Tick. Wann bekam ich das letzte mal Morphium? Wirkt es überhaupt? Tick. Mein Körper will anscheinend das Gegenteil beweisen. Tick. Meine Augen fallen zu.
Die Sache mit dem Krebs. Im Nachhinein tut er mir ein bisschen Leid, er konnte schließlich nichts dafür. Aber ich konnte auch nichts dafür und das änderte nichts an meiner Lage. Damals wachte ich mitten in der Nacht auf. Ich verspürte einen dumpfen Schmerz in meinem Kopf. Keine Liegeposition erwies sich als angenehm und außerdem war mir schwindlig. Einschlafen konnte ich nicht, also warf ich die Decke von mir und stand auf. Ging zu dem schwach beleuchteten Aquarium. Starrte das Haus des Einsiedlerkrebses an. Neben dem Aquarium stand eine Packung Kokosraspeln. Ich nahm eine Handvoll. Einige ließ ich in das Aquarium fallen und den Rest stopfte ich mir in den Mund. Als ich kaute, sah ich zu, wie die Kokosraspeln auf den Boden des Aquariums sanken. Der Krebs kam aus seinem Haus und kroch zu den Raspeln hinüber. Ewig sah ich ihm zu. Er war so langsam. Je länger ich dort stand, desto wütender wurde ich. Mein ganzer Körper bebte. Zitternd streckte ich meine Hand aus, tauchte sie in das kühle Wasser und hob den Einsiedler sachte aus dem Aquarium. Ich hielt ihn an seiner Schale fest und legte ihn behutsam auf den Boden zwischen meine Füße. Die Uhr tickte laut. Ich hasste diesen Krebs. Und ich trat auf ihn. Ein fester Tritt. Die Schale des Krebses krachte leise, als mein Fuß darauf stampfte. Ein zweiter Tritt, diesmal stärker. Die harten Scherben des Krebsgehäuses stachen in meine Fußsohle und ich verspürte einen plötzlichen Schmerz. Wieder ein Tritt. Und dann noch einer. Und noch einer. Ich trat lange auf den Krebs ein, obwohl er längst schon tot war. Dann fing ich an zu schreien. Ich schrie, weil es ausweglos war und ich meinen Krebs getötet hatte. Weil mich mein Krebs töten würde. Weil ich meinen mich-tötenden Krebs nicht töten konnte. Weil ich wünschte, dass es endlich aus sein würde. Weil ich das Leben nicht mehr aushielt und mich die verdammte Hilflosigkeit zerstörte. Als mein Vater ins Zimmer kam, sah er mich anfangs unsicher an. Er redete nicht viel, er wusch mich, verband meinen Fuß und brachte mich anschließend ins Bett. Er verstand, dass sein Schweigen mir mehr half als Worte es konnten. Nachdem er den toten Krebs beseitigt hatte, kam er nochmal in mein dunkles Zimmer. Ich glaube, er dachte, ich schlief schon. Mit vorsichtigen Schritten kam er zu mir ans Bett und blieb dort stehen. Ich hörte das laute Ticken der Uhr. Hin und wieder spürte ich seine Tränen, die auf meinen nackten Oberkörper fielen. Er deckte mich zu.
Tick. Die Tür öffnet sich, mein Vater kommt herein. Tick. Sein Zigarettengeruch setzt sich mit ihm zu mir ans Bett. Er sieht schrecklich aus. Tick. „Es tut mir leid.“ sagt er leise. Er sieht mir nicht in die Augen. Tick. Ich will meinen Kopf schütteln. Ein stechender Schmerz durchfließt meinen Nacken. Tick. Ich sehe der Uhr beim Ticken zu.
Vor einigen Tagen, als mein Vater bei mir im Zimmer war, bat ich ihn um einen Gefallen. Das Morphium machte mich benebelt und Atmen fiel mir schwer, weil meine Lunge zu brennen schien. „Papa, hilf mir. " flüsterte ich. Er wusste genau, was ich meinte. Zuerst sah er mich nur ruhig an. Dann blickte er auf meinen Schreibtisch, auf dem Medikamente und Schmerzmittel standen. Die Uhr tickte laut. Ich schlief ein, wachte wieder auf. So konnte ich nicht mehr. Nicht mehr auf meinen Tod warten, mit Schmerzen, die nicht auszuhalten waren. Mein Vater antwortete nicht. „Papa?“ Er wendete sich von mir ab. Ein Räuspern. Seine Stimme war zittrig. „Bitte verlang‘ das nicht von mir.“ Er begrub seinen Kopf in den Händen. Ich fragte mich, wer von uns in dieser Situation egoistischer war. Ob ich es wirklich getan hätte, kann ich nicht sagen. Schlucken tat mir weh.
Tick. Ob es eine Schmerzträne oder ein Schweißtropfen ist, welcher meine Wange nässt, weiß ich nicht. Tick. Wie spät es wohl ist? Tag und Nacht kann ich nur noch schwer unterscheiden. Tick. Der Druck in meinem Kopf verursacht unbeschreiblichen Schmerz. Tick. Sekunden zählen. Minuten. Stunden. Irgendwann muss es doch enden! Tick. Meine Gedanken sind wirr und mir ist heiß. Tick. Mit dem Finger zeige ich zur Uhr hinauf. Ich kann das nicht mehr hören. Mein Vater sitzt neben mir, erkennt was ich will. Er nimmt die Uhr von der Wand um sie zu stoppen. Das Ticken verstummt. Danke, Papa. Tick. Ich habe mich geirrt. Das Ticken bleibt, obwohl die Uhr ab ist. Tick. Laut, nur dieses Mal ist das Ticken in meinem Kopf. Mein Kopf ist das Aquarium. Der Krebs ist da drin. Tick. Ich habe das Gefühl, mein eigener Körper erdrückt mich und kneife die Augen so fest zu, dass ich bewegte Muster sehe. Tick. Ich muss mich auf die Atmung konzentrieren. Tick, einatmen. Tick, ausatmen. Ich hyperventiliere, atme viel zu schnell. Tick. Halte die Ohren mit aller Kraft, die ich noch habe, zu. Um das Ticken irgendwie zu stoppen. Tick. Nichts hilft. Ich schluchze laut auf, es tut mir weh. Tick. Meinen Vater nehme ich nicht mehr wahr. Tick. Ist das eine Panikattacke? Oder passiert es jetzt? Tick. Etwas berührt meinen Mund, mein Vater gibt mir zu trinken. Er hält ein Glas an meine Lippen und ich trinke kaltes Wasser. Tick. Schlucken tut weh. Mein Vater zittert und neigt das Glas zu sehr. Wasser fließt über meine Wangen und tropft auf den Polster. Tick. Ich öffne meine Augen. Tick. Der Druck, den meine Finger auf meine Ohren ausüben, wird schwächer. Mein Kopf pocht voll Schmerz, doch auch der lässt nach. Nach und nach wird das Ticken leiser. Meine Mundwinkel zucken.
Dann schlafe ich ein.
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