Ein Anfang im Endevon Katharina Brost
Was, wenn es noch nicht reicht, obwohl man alles erreicht hat, was man sich gewünscht hat? Wenn man die Möglichkeiten noch nicht ganz ausgeschöpft hat? Was, wenn es noch weitergehen kann? Es gibt vieles, was wir nicht begreifen können.
Das Schicksal gehört dazu.
Es war einmal… so fängt auch mein Märchen an. Habe ich übertrieben? Vielleicht. Was kann man schon als Märchen bezeichnen? Es muss nicht immer alles gut gehen, aber am Ende siegt die sympathischste aller Personen, die schönste Prinzessin, der mutigste Bauernjunge, der klügste König.
Auch ich hatte mein Ziel erreicht. Aber hinter einem Ende versteckt sich oft ein Anfang.
Der Schnee fällt schon stundenlang und verbirgt die kahlen Äste der Bäume. Es ist ein schönes Bild, der Kontrast zwischen den harten Linien der im Dämmerlicht schwarzen Stämme und den fedrigen weißen Zweigen. Ich nehme die Kamera in die Hand und schalte sie an. Das Summen, mit dem das Objektiv ausfährt, ist so vertraut wie meine eigenen Hände. Ich fokussiere, stelle den ISO-Wert neu ein, korrigiere die Blendenöffnung und drücke den Auslöser. Das satte Klacken, mit dem der Spiegel hochklappt, löst ein Glücksgefühl in mir aus.
Schon seit Jahren trage ich eine Kamera mit mir herum, wo auch immer ich bin. Die Natur, die Menschen, einfach alles fasziniert mich wie ein Theaterstück, das nur für mich inszeniert wird. Ich bin der Zuschauer, die Person, die gebannt der Handlung folgt und am Ende pflichtschuldigst applaudiert. Ich halte das Geschehen fest, in Gedanken, Worten und Bildern. Wie ein Erzähler, der von oben herabschaut und zufrieden feststellt, dass alles seinen gewohnten Gang geht.
Manchmal jedoch passieren Dinge, die man sich nicht einfach so vorstellen kann.
Etwas plötzliches, das einen aus der Bahn wirft.
Ich habe immer gedacht, dass ich eigentlich genug hätte. Eine Kamera und mein Talent. Ohne übertreiben zu wollen. Ich bin gut, wahrscheinlich sogar unter den Besten. Es gibt nur wenige, die erreicht haben, was sie sich immer gewünscht haben. Ich habe lange gebraucht, um mich hochzuarbeiten, aber ich habe es geschafft. Das reicht mir, mehr will ich nicht.
Meine Tage beginnen immer gleich. Ich stehe auf, esse, packe meine Sachen und mache mich auf den Weg. Die Welt besteht aus so vielen Bildern, und jeden Tag finde ich ein neues.
Es ist ein ungewöhnlicher Wintertag. Der Nebel schwebt heute über dem Boden, und der Mond ist noch am Himmel zu sehen. Es ist ein ruhiges Motiv, still und nur gelegentlich von einem Auto gestört. Ich überlege kurz, dann fällt es mir ganz leicht und geht wie von allein. Kurz bevor ich den Auslöser betätige, höre ich ein Klacken. Es klingt wie das vertraute Geräusch meiner Kamera, das mich den ganzen Tag hindurch begleitet, aber es ist anders. Ich drehe mich ruckartig zur Seite. Da ist jemand, nicht weit entfernt von mir. Ich sehe das Objektiv einer Kamera, dunkle Handschuhe und einen mitternachtsblauen Mantel. „Was…“ Meine Stimme klingt dünn und piepsig.
„Hab ich dich erschreckt? Entschuldige.“ Er kommt auf mich zu, die Kamera locker in einer Hand. Unwillkürlich schiele ich darauf. Eine Spiegelreflexkamera, allerdings nicht das gleiche Modell, das ich in der Hand halte. „Es war faszinierend, wie konzentriert du warst.“ Meine Überraschung wandelt sich zu Ärger. „Hast du gerade eben mich fotografiert?“ Er legt den Kopf schief, und sein Blick sagt mir, dass die Antwort ja wohl offensichtlich ist. „Du gehst oft fotografieren.“ Damit wirft er mich aus der Bahn.
„Woher willst du das wissen?“
„Ich habe deine Bilder gesehen. Du bist gut.“ So sachlich, wie er es sagt, klingt es nicht so, als hätte ich mit der Fotografie den Traum meines Lebens verwirklicht. Aber woher soll er das schon wissen? , versuche ich mich zu beruhigen.
„Danke.“
Wir schweigen. Es ist kein leeres Schweigen, sondern es scheint so voller Worte zu sein, als würde die Luft um uns herum die Sätze bilden, die wir nicht aussprechen. Wir stehen da, bis die Sonne sich über den Nebel gekämpft hat und der Mond nicht mehr zu sehen ist. Seine Haare schimmern rotgolden wie Herbstblätter. Ich hebe die Kamera und drücke den runden Knopf. Es klackt, und er schaut mich immer noch unverwandt an. „Ich schätze mal, jetzt sind wir quitt“, sagt er mit einem schiefen Grinsen.
Der Tag danach ist fast wieder wie immer. Ich sehe die Menschen, aber sie sehen mich nicht.
Ich halte die Momente in Bildern fest, bevor sie vorbeischlüpfen, aber niemand bemerkt es.
Trotzdem ertappe ich mich bei dem Gedanken an den Jungen mit dem Haar wie Herbstblätter. Ich weiß nicht, warum, aber etwas an diesem Jungen irritiert mich nach wie vor. Er ist nicht wie die Menschen auf meinen Bildern. Er hat mich gesehen.
Und seltsamerweise stört mich das.
Normalerweise gehe ich schwerelos durch den Tag. Aber irgendetwas hält mich heute zurück, ein kleiner Gedanke, der irgendwo in meinem Hinterkopf herumschwirrt.
Ich weiß, dass es an diesem Jungen liegt. Ich ertappe mich immer wieder dabei, wie ich das Foto von ihm anstarre und mich frage, warum er an diesem Tag neben mir gestanden ist.
Und warum er mich fotografiert hat. Die Welt war doch immer mein Theaterstück, meine Vorstellung, nur inszeniert, damit ich die wichtigen, die schönen Momente festhalten kann.
Es hätte mir nichts ausgemacht, hinter meiner Kamera zu bleiben. Warum also bin ich in den Fokus geraten?
„Hey.“ Ich zucke erschrocken zusammen. Da ist er wieder, und er hat mich als einziger bemerkt. Alle anderen gehen weiter. „Hast du Lust, einen ganz besonderen Platz zu sehen?“
Ein kleines Stück Wald, ein bisschen Wiese, ein kleiner Fluss. Ich habe viele solcher Orte gesehen, aber ich verstehe sofort, was diesen hier so besonders macht. Es ist das Rauschen des Wassers und des Windes. Er schaut mich an, und in seinen Augen ist etwas, das ich nicht deuten kann. Es gibt viele Bilder von Menschen, Porträts, Gruppenaufnahmen, aber keines zeigt diesen Ausdruck. Es ist ein wildes und ruhiges Fragen und gleichzeitig eine Antwort, die so selbstverständlich wirkt wie nichts sonst.
Eine Sekunde streckt sich in die Länge, wird unendlich, mehrere Herzschläge lang. Die Zeit selbst löst sich auf, wirbelt mit dem Wind davon und wird den Fluss hinuntergetragen, während ich dastehe und begreife.
Es ist nicht die Stille, nicht die festliche Symphonie des Wassers oder das Flüstern des Windes, und auch nicht die Anordnung der Bäume oder die Farbe des Himmels.
Es gibt keinen perfekten Ort.
Es gibt nur perfekte Momente.
Und der perfekte Moment ist etwas, das man nicht festhalten kann. Er vergeht so schnell wie ein Wimpernschlag, noch bevor man ihn zu fassen bekommt. Aber die Empfindung hallt nach, und dieses Echo bleibt als bittersüßer Schmerz.
„Spürst du es?“, frage ich leise.
„Ja.“ Seine Augen sind der Mittelpunkt des Universums, als er mich ansieht.
Manchmal fällt jemand aus seiner Rolle und verlässt seinen Platz auf der Bühne, um sich neben mich zu setzen.
Manchmal gibt es Momente, in denen sich das Theaterstück auflöst, und mir wieder bewusst wird, dass ich Teil davon bin. Nicht nur ein Beobachter.
Dieses Märchen endet nicht mit einem Kuss und einer abgenutzten Phrase.
Mein Märchen endet mit einem Anfang.
Weil mir dieses Ende, egal wie viel ich erreicht habe, noch nicht genug ist.
Es ist nie genug.
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