gelb oder orange? von Tamina Koren
Menschen strömten an ihr vorbei wie ein Schwarm Fische, der das Weite sucht. Fremde Augen fingen ihren Blick auf, musterten sie kurz und wandten sich wieder ab. Der Wind peitschte eisige Luft gegen ihr Gesicht und tauchte ihre Nasenspitze in ein kräftiges Rot. Sie knöpfte sich den grauen Mantel zu und spürte, wie ihre Füße immer schneller über den Asphalt liefen. Sie war bald da. Die Sonne verschwand allmählich hinter der Skyline der Stadt, während die ersten Lichter zum Leben erwachten. Je näher sie kam, desto lauter wurden ihre Gedanken. Sie lief und lief, bis sie endlich bei der Eingangshalle angelangt war. Ruckartig blieb sie stehen – die Frau hinter ihr überholte sie fluchend. Sie ließ ihren zarten Körper gegen die Hauswand sinken und atmete tief ein. Mit geschlossenen Augen versuchte sie sich zu erinnern, was sie dazu veranlasst hatte, loszugehen. Obwohl es nur wenige Minuten her war, schien die Erinnerung daran bereits langsam zu verblassen.
Sie war zu Hause in ihrem Schlafzimmer. Es roch nach frischem Kaffee, den sie kurz zuvor zubereitet und dann einfach stehen gelassen hatte. Sie saß auf ihrem Bett und starrte auf die große Wanduhr, die über ihrem Schreibtisch hing. Sie lauschte dem Ticken der Uhr, beobachtete den schmalen schwarzen Zeiger, der langsam seine Runden drehte. So saß sie da. Aufrecht. Ohne sich zu bewegen. Wie lange sie so dasaß, wusste sie nicht. Weshalb, wusste sie auch nicht. Irgendwann stand sie auf, stürmte zur Wohnungstüre und lief los.
Ihr Atem formte weißen Rauch, als sie die kühle Abendluft aus ihren Lungen stieß. Die Finger in ihrer Jackentasche waren mittlerweile fast vollständig eingefroren. Zitternd entfernte sie sich von der Hauswand und betrat die Halle durch eine der smaragdgrünen Holztüren. Auch hier drinnen lagen die Temperaturen nur knapp über Null. Sie rieb ihre Hände aneinander, um der Kälte entgegen zu wirken, doch es half nicht viel – und es machte ihr nichts aus. Bald würde sie die Kälte ohnehin nicht mehr spüren. Sie warf einen Blick auf den Monitor über ihrem Kopf und lief zu den Treppen. Menschen kamen ihr entgegen, andere liefen an ihr vorbei, um rechtzeitig nach oben zu gelangen. Fasziniert beobachtete sie die verschiedenen Gesichter. Lächelnde. Bekümmerte. Ausdruckslose. Sie alle hatten eine Geschichte.
Etwa auf halbem Weg nach oben erweckte ein ganz besonderes Gesicht ihre Neugierde. Es gehörte zu einem älteren Mann. Er saß auf einer der steinernen Stufen und trug einen dicken, abgenutzten Wintermantel. Sein Blick war auf den Boden gerichtet. Er sah müde aus. Erschöpft und abgemagert. Obwohl sie gerne seine Geschichte erfahren hätte, wollte sie ihn nicht beachten. Sie wollte einfach nur weitergehen. Nach oben gehen. Beenden, was sie angefangen hatte. Doch als sie die Stufe, auf der er saß, erreicht hatte, hob der alte Mann seinen Kopf und sah sie an. Mit einem Blick, der ihr schon lange nicht mehr geschenkt worden war. Mit einem Blick, der sanft war. Voller Wärme und Gutmütigkeit. Ein Blick, der ihr seltsam vertraut vorkam. Sie wurde langsamer und erwiderte seinen Blick, starrte in seine braun gesprenkelten Augen und fragte sich ob er es wusste. Ob er wusste, was sie vorhatte. Schließlich bemerkte sie ein Schild in seiner rechten Hand. Es bestand aus Karton, war schon etwas beschädigt und mit schwarzem Filzstift beschrieben. Ich bin hungrich war darauf zu lesen. Ich bin hungrich, wiederholte sie in Gedanken. Und während dieser Satz in ihrem Kopf umherschwirrte fragte sie sich, wo ihr Hunger war. Ihr Hunger auf das Leben. Wann hatte sie ihn verloren? Dieser alte Mann strahlte so viel Wärme aus. Wärme, die sie an jemanden von früher erinnerte. An jemanden, der von derselben Wärme umgeben war. Dieser alte Mann hatte nicht viel. Doch er hatte die Kraft weiterzumachen. Weiterzuleben. Wohin war ihre Kraft entschwunden? Wo war ihr Hunger?
Seufzend wand sie sich von dem alten Mann ab und setzte ihren Weg fort. Nachdem ihre Beine endlich den Weg nach oben gefunden hatten, spürte sie, wie auch der letzte Tropfen ihrer Energie aus ihren müden Knochen entwich. Erneut warf sie einen Blick auf den Monitor. In neongelber Schrift leuchtete ihr die Zeit entgegen. Ihre Zeit. Zwei Minuten. Sie blinzelte. Zwei Minuten. 120 Sekunden. 160 Herzschläge. Dann würde es vorbei sein. Dann würde sie verschwunden sein. Erloschen. Wie ein kleines Licht am Ende der Straße, dem nie jemand Beachtung geschenkt hatte. Ein kleines Licht, das nie hell genug strahlen konnte. Dessen Strahlen niemanden erwärmen konnten. Ein kleines Licht, das nicht genügend Kraft fand, weiter zu leuchten.
Während sie mit zittrigen Beinen den gefliesten Steinboden entlangschlich, betrachtete sie die wartenden Gestalten. Sie alle hatten ein Ziel. Sie alle hatten eine Geschichte. Sie hätte ihre gerne neu geschrieben.
Im Gehen strich sie mit den Fingerspitzen die schneeweiße Wand entlang. Neben ihren Füßen schlängelte sich die zitronengelbe Linie, vor deren Missachtung ihre Mutter sie schon als kleines Mädchen gewarnt hatte. Heute waren diese Worte nicht mehr von Bedeutung. Ganz vorne blieb sie stehen und sah zu Boden. Neben ihren Füßen entdeckte sie die leere Hülle eines Nimm zwei Bonbons. Instinktiv hob sie es auf und betrachtete es. Ein Riss war im Papier. Die Innenseite war etwas klebrig. Nimm zwei , flüsterte sie und langsam kam die Erinnerung zurück. Die Erinnerung an die Autofahrten mit ihrem Großvater, als sie erst wenige Jahre alt war. Er hatte diese Bonbons immer in großen Mengen im Handschuhfach gelagert. Bei jeder Fahrt durfte sie sich eines davon aussuchen. „Gelb oder orange?“ hatte er sie immer gefragt, und sie hatte anstatt zu antworten die Augen geschlossen und ihre Hand ausgestreckt.
Eine Träne tropfte auf das Papier und perlte langsam ab. Endlich wusste sie, weshalb ihr der alte Mann so vertraut vorkam. Weshalb sie die Wärme in seinem Blick schon einmal gespürt hatte. Sie umschloss das Papier mit ihren Fingern und ließ ihre Hand in der Jackentasche verschwinden.
Nur mehr eine Minute. 60 Sekunden. 80 Herzschläge.
Einatmen. Ausatmen.
Helle Lichter zeichneten sich in der Dunkelheit ab. Sie presste die Lippen aufeinander. Umschloss das Stück Papier noch fester.
Einatmen. Ausatmen.
Ein sanftes Rauschen ertönte. Die Lichter wurden heller. Die wartenden Gestalten setzten sich langsam in Bewegung.
Einatmen. Ausatmen.
Das Rauschen wurde lauter. Die Lichter waren fast da. In ihrer Jackentasche knisterte das Stück Papier.
Die Lichter verschwanden. Kühle Luft zog an ihr vorbei, als sich die Bremsen in Bewegung setzten.
Die Türen öffneten sich langsam. Das Stückchen Papier immer noch fest umklammert mischte sie sich unter die anderen Gestalten und stieg ein.
Einatmen. Ausatmen.
Als sich die Türen schlossen, begann sie zu lächeln. Sie hatte kein Ziel. Sie wusste nicht, wohin sie wollte. Doch eines wusste sie jetzt. Sie war noch hungrich.
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