Hals über Kopfvon Helene Kratky
Gehen. Immer nur gehen. Gehen kann ich gut. Viele können gehen, aber ich kann es besser. Ich gehe davon. Manchmal gehe ich auch hin. Heute gehe ich davon. Weg. Weit weg. Am weitesten weg, so weit es überhaupt geht, so weit gehe ich dann. Irgendwann bleibe ich stehen. Aber mein Kopf geht weiter. Ich sage ihm doch, dass er stehen bleiben soll, aber er geht weiter. Er hört mich nicht. Ich muss ihn einholen. Laufen. Ich versuche zu laufen. Ich kann es nicht. Ich bleibe stehen. Dann gehe ich. Ja, gehen, das kann ich.
Irgendwann kann auch mein Kopf nicht mehr. Er ist müde. Ich bin müde. Gemeinsam legen wir uns hin. Ich möchte schlafen. Mein Kopf möchte aber noch nicht schlafen. Also schlafe ich nicht. Erst wenn er es erlaubt. Endlich. Jetzt ist er so weit. Fertig mit dem Denken, Philosophieren, Überlegen. Ich schlafe ein.
Ich wache auf. Ich wache meistens vor ihm auf. Das ist nicht gut. Aufwachen ohne Kopf, das fühlt sich nicht richtig an. Wenn er aufwacht geht es mir wieder gut. Dann kann ich mit ihm beginnen. Gemeinsam schaffen wir alles, gemeinsam sind wir stark.
Gehen. Wir müssen viel gehen. Oft kann er es besser als ich, obwohl ich besser bin. Er ist mir dann voraus und ich kann ihn nicht mehr einholen. Mein Kopf will meist mehr als ich. Oft überfordert er mich. Wenn ich ihm versuche das zu sagen, geht er davon. Ich probiere oft aus vor ihm davon zu gehen. Er ist immer schneller. Jedes Mal.
Einmal konnte er mich nicht mehr einholen. Einmal war ich schneller. Das wunderte mich. Irgendetwas war dann anders. Manchmal wollte mein Kopf nicht mehr, obwohl ich noch wollte. Manchmal konnte mein Kopf nicht mehr, obwohl ich noch konnte. Nicht ich gehorchte ihm, er gehorchte mir. Wir tauschten unsere Rollen. Ich musste ihn tragen. Er war so müde, dass er gar nicht mehr gehen konnte. Mein Kopf war schwer, zu schwer. Ich konnte ihn nicht weit tragen. Immer nur ganz kurz. Mit vielen Pausen.
Gehen. Das Gehen gefiel mir ohne meinen Kopf nicht mehr. Ich vermisste den Wettlauf. Ich vermisste die Stärke. Ich vermisste den Tatendrang. Ich vermisste meinen Kopf, obwohl er noch da war. Ich fragte ihn auch, was den los sei. Er war zu müde, um etwas zu antworten. Das machte mich traurig. Ich war einsam. Ich fühlte mich verlassen. Dadurch fiel mir einiges schwerer. Das Gehen fiel mir am allerschwersten.
Es wurde nicht besser. Es wurde immer schlimmer. Mein Kopf war für vieles zu schwach. Alles musste ich alleine machen. Ich musste noch nie etwas alleine machen. Das war ich nicht gewohnt. Das konnte ich nicht. Das funktionierte nicht lange. Bald war ich schwach. Bald folgte ich meinem Kopf. Bald wurde ich müde.
Jetzt ist mein Kopf gar nicht mehr da. Ich habe ihn verloren. Für immer.
Hals über Kopf, kopflos.
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