Alles anders. . . ? von Laura Sark
Der Apfel fällt vom Baum, aber anstatt am Boden aufzukommen, fällt er nach oben. Du kannst deinen Augen kaum glauben. Der Apfel sollte auf dem Boden liegen, ins Gras plumpsen, er kann doch unmöglich nach oben fallen! Aber er fällt immer weiter, bis er so weit weg ist, dass du ihn nicht mehr sehen kannst. Trotzdem bist du dir sicher, er wird weiter fallen, bis er landet. Die Frage ist nur, wo das sein wird. Wann das sein wird. Ob der Apfel dann überhaupt noch existiert.
Du fragst dich, was passieren würde, wenn du dich fallen lässt. Würdest du stürzen, auf dem Boden aufkommen, oder würdest du fliegen, wie der Apfel? Es könnte so einfach sein, nach oben zu kommen, einmal kurz stolpern und schon wärst du weg, weg vom Grund, weg von deinem alten Leben.
Du wolltest doch schon immer fliegen können.
Aber wenn es so einfach ist, warum tut es dann niemand? Was wäre, wenn alle fliegen würden? Wäre es dann überhaupt noch lohnenswert, es auch zu tun? Vielleicht haben sie auch nur alle Angst, Angst, dass es nach einmal Loslassen kein Zurück mehr gibt. Vielleicht solltest du auch besser Angst haben.
Du gehst weiter, bemüht, nicht zu stolpern. Ob du fliegst, wirst du wohl selbst entscheiden dürfen.
Es fällt dir schwer, dich nicht fallen zu lassen. Jetzt, wo du weißt, wie einfach es sein kann, ist es zu verlockend. Wenn selbst ein Apfel mutiger ist als du, weißt du, du musst etwas ändern.
Aber es ist doch schon alles anders. Was willst du in dieser neuen, verdrehten Welt, in der du ausgesetzt wurdest, noch ändern? Du musst dich zuerst anpassen, an die Neuheiten gewöhnen. Die Welt wird sich nicht an dich anpassen, und wenn du dir eine Brücke über den Fluss vor dir wünschen wirst, wird der Fluss keine Brücke wachsen lass- Nun das ist ja mal erstaunlich.
Was dachtest du gerade? Vielleicht passt sich die Welt ja tatsächlich an dich an. Wenn Äpfel fliegen können, wenn Flüsse Brücke bauen, dann ist nichts mehr unmöglich. Du fragst dich, wie weit du gehen kannst. Wohin führt dieser Weg? Wie viel kannst du dir noch wünschen, was wird die Welt dir erfüllen? Wenn du dich zurückwünschst, dann würde sie dich sicher zurückschicken, oder?
Aber jetzt kannst du nicht an Rückkehr denken. Du bist fasziniert von der Welt, in der du gelandet bist. Noch hast du keine fünf Schritte getan, und schon ist dein gesamtes Weltbild zerfallen. Fliegende Äpfel, brückenbauende Flüsse – du willst wissen, was als Nächstes kommt.
Die Sonne scheint auf den Weg vor dir herab, du wendest dich der Brücke zu. Der Fluss hat sie für dich gebaut. Ein solches Angebot kannst du nicht ablehnen.
Das Wasser rauscht, das Wasser schwillt, aber kein Fischer sitzt daran. Vielleicht könntest du ein Fischer sein, dir eine Angelrute wünschen. Ein bisschen Ruhe tanken, bevor du zurück in deinen Alltag gehst.
Du staunst. Alles ist so friedlich hier, so still. Fast wäre es zu still, würde nicht das Wasser glucksen und die Blätter im Wind säuseln. Aus den Augenwinkeln siehst du, wie sich ein weiterer Apfel von seinem Zweig löst, erneut nach oben fällt. Du schaffst es nicht, den Blick davon loszureißen. Das hier ist ein Wunder, das alles ist ein Wunder. Dein Wunder, denn wer ist denn sonst hier, um es zu beobachten?
Mit einem Mal fragst du dich, warum du denn allein bist. Wo sind die anderen Menschen, wem kannst du von all dem hier erzählen?
Noch während du das denkst, siehst du in der Ferne Hausdächer. Begeisterung durchfährt dich, sofort beschleunigst du deine Schritte, steuerst auf das Dorf zu.
Nicht mehr lange, und die Zivilisation hat dich wieder.
Du gehst und gehst, aber die Dächer kommen nicht näher. Die Luft wird immer wärmer, dir wird immer wärmer, du atmest auf, als Wolken am Himmel erscheinen. Aber die Sonne lässt sich nicht verdecken, sie scheint mit aller Kraft über den Himmel, heizt alles um sich auf. Es ist so warm, so hell, dass du die Augen schließen musst. Plötzlich trifft ein Regentropfen deine Schulter. Du weißt nicht recht, ob du dich über die Abkühlung freuen oder über die Nässe ärgern sollst und schaust halb vorwurfsvoll, halb erleichtert nach oben.
Du kannst deinen Augen nicht trauen. Was sich da vor deiner Nase abspielt, ist absolut unfassbar.
Die Sonne weint. Schwere, runde Tropfen fallen von ihr herab, beregnen genau die Stelle, an der du stehst. Die Sonne weint auf dich. Aber trotzdem bleibt es hell, denn die Wolken beginnen sanftes Licht zu verströmen, fast so, als wären sie große, schwebende Lampions.
Wenn Wolken scheinen und Sonnen regnen können, was kann dann noch passieren?
Ein Gedanke taucht in dir auf und schlägt dich fast nieder. Wenn diese Welt hier alles verzerrt, was hat sie dann aus dir gemacht? Hektisch siehst du an dir herab. Du siehst aus wie immer, aber vielleicht dachte der Apfel auch, er sei normal, bis er nach oben fiel. Vielleicht wusste der Fluss nicht, was in ihm steckt, ehe er die Brücke baute, vielleicht ahnten weder Sonne noch Wolken, dass sie Rollen tauschen würden.
Unbarmherzig fällt Regen auf dich herab, aber es kümmert dich nicht. Du bist gefangen in einer verdrehten Welt, und du kannst nicht wissen, ob du wirklich die Person bist, von der du denkst, dass du sie bist.
Deine Entscheidung ist gefallen, ehe du wirklich darüber nachdenken kannst. Du sprichst die Worte aus, ohne länger über die Konsequenzen zu rätseln.
„Bring mich zurück.“
Es ist sicher besser so. Du gehörst doch nicht in eine Welt, in der Äpfel fliegen, Flüsse Brücken bauen, in der die Sonne regnet und die Wolken strahlen, oder?
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