Der Geschichtenschreiber
Wie lange er schon lebte, wusste er nicht. Er wusste nur, wie viele Geschichten er schon geschrieben hatte. Siebenmillionenzweihunderttausenddrei. Das Tippen auf der Schreibmaschine war ihm so bekannt wie das Atmen. Jeder Tag war gleich. Er wachte auf, schrieb, ging schlafen. Tag. Für. Tag.
Geschichte Siebenmillionenzweihunderttausendvier entstand.
Er ging schlafen.
Geschichte Siebenmillionenzweihunderttausendfünf entstand.
Er ging schlafen.
Er wusste alles über die Menschen. Auch ihren erbitterten Wunsch nach unendlichem Leben kannte er. Und er konnte es einfach. Nicht. Verstehen. Er hatte alles probiert, um seinem ewigen Dasein ein Ende zu bereiten. Er wollte sich mit seiner Decke erwürgen. Er verweigerte wochenlang sein Essen. Er schlug seinen Kopf gegen die Tischkante. Oft. So oft. Er ließ sein Bett auf sich fallen. Er versuchte einfach alles. Und er war immer noch da. Er hasste es. Er kannte jeden Kratzer auf seinem Tisch, er kannte jede Diele des Bodens. Nur sich selbst sah er nie. Es gab keinen Spiegel. Also schrieb er weiter.
Siebenmillionenzweihunderttausendsechs.
Siebenmillionenzweihunderttausendsieben.
Siebenmillionenzweihunderttausendacht.
Er zählte die Schrammen in seiner Wand. Er versuchte an seinem Holzlöffel zu ersticken. Sein Besteck war am nächsten Tag verschwunden. Er verfluchte die Menschen für ihren Wunsch nach Unendlichkeit. Ein Leben ohne Ende. O. h. n. e. E. n. d. e.
Siebenmillionenzweihunderttausendneun.
Siebenmillionenzweihunderttausendzehn.
Seine Geschichten erzählten vom Leben. Und vom Sterben. Denn das eine wird ohne das andere unbedeutsam. Er zählte die Falten auf seinen Händen. Er versuchte, sich die Augen aus dem Kopf zu kratzen.
Siebenmillionenzweihunderttausendelf.
Bei der siebenmillionenzweihunderttausendzwölften Geschichte beschloss er, dass sich etwas ändern musste. Und er fasste einen Plan.
Er wachte auf.
Er schrieb eine Geschichte.
Siebenmillionenzweihunderttausendreizehn.
Er legte seine rechte Hand unter ein Tischbein. Das Tischbein fiel auf seine Hand. Einmal. Zweimal. Fünfmal. Dreizehnmal. Dann war seine linke Hand an der Reihe. Seine Hände waren nicht mehr als solche zu erkennen.
Er schlief ein.
Er wusste, dass er nicht mehr aufwachen würde. Denn ohne seine Hände konnte er nicht schreiben. Und ohne sein Schreiben war er nicht mehr von Nutzen.
Er war noch nie so glücklich gewesen.
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