Der Vorhangvon Felicitas Marti
Tag 4
Bunte Farbbilder flimmern vor meinem inneren Auge, komplexe Szenen erzählen eine Geschichte, doch anstelle einer immer klarer werdenden Abfolge werden sie plötzlich kreuz und quer durcheinander geworfen, prallen gegeneinander und lösen eine immer größer werdende Verwirrung in mir aus, bis mein Traum schließlich komplett in ein nervtötendes Weckermalheur verrinnt.
Die bunten Bilder lösen sich in Luft auf, die mir kühl ins Gesicht schlägt und mich die bittere Realität, meine bittere Realität, begreifen lässt.
Mein Körper bebt vor Schlafmangel und kalter Morgenluft, ich quäle mich aus meiner viel zu weichen Federburg, auch meine zerknitterten Haarsträhnen kratzen mich zärtlich am Hals : „Hey! Come on!“, flüstern sie mir krächzend ins Ohr. Gleichzeitig beschwert sich mein Mund bei mir, dass ich auf seine abendliche Säuberung vergessen hatte und rächt sich jetzt mit dem Geschmack der Fäulnis bei mir. Ich gleite aus dem Bett, stehe wackelig auf meinen Beinen und tappe orientierungslos über die kalten Fliesen ins Bad. Erst als sich meine verfrorenen Zehen in den altbekannten Badezimmerteppich graben, halte ich inne. Ich habe mich immer noch nicht daran gewöhnt. Als ich die ruppige Zahnbürste über meine Karies übersäten Zähne führe, muss ich mich mit jeder einzelnen Gehirnzelle darauf konzentrieren, mich nicht zu übergeben. Zähne putzen, so etwas Plausibles, ist jeden Tag für mich ein großer Kampf. Doch ich bin eine Kämpfernatur. Ich will das schaffen. Ich will glücklich sein. ICH WILL EINFACH NUR DAS SCHÖNE IM LEBEN SEHEN. Und so gurgle ich, lasse locker und sprühe das schäumende Minzwasser ins Waschbecken, schlüpfe in ein übergroßes Shirt meines Vaters und rutsche positiv geladen die Treppen runter, wo schon meine morgendliche Tasse Filterkaffe, die jeden Tag liebevoll von meiner Mutter aufgebrüht wird, auf mich wartet. Ich nippe daran, ziehe Luft durch meine kribbelig verbrannten Lippen und nippe noch mehr. Das gewohnte Gefühl der gemahlenen Kaffeekörnchen macht sich auf meiner Zunge und im Rachen breit. Mamas Kaffees haben stets Sudrückstände. Viel Liebe, das reicht mir für einen guten Start in den Morgen, daran hindern mich diese kleinen aufputschenden Bröckchen schon lange nicht mehr, es gibt wesentlichere Dinge im Leben. Aber manchmal muss man erst tief fallen, sehr tief. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass sich bald alles wieder zum Alten, zu meiner bunten Zauberwelt, wenden wird. Ich drehe mich zu meiner Mutter um, sie ist etwas vorsichtiger mit mir geworden, doch ihre Umarmungen sind noch immer fest und warm. Menschen ändern sich eben. Genauso wie die Mode. Einmal ist es schwieriger, sich in die Stofffetzen hineinzuzwängen und ein anderes Mal fühlt man sich nahezu nackt. Doch dass sich Menschen und Kleidungsstücke ändern, das ist normal. Ich entscheide jeden Tag aufs Neue, spontan, was ich heute tragen will. Mir ist es egal, wie ich aussehe, Hauptsache ich fühle mich wohl und solange ich mich wohl fühle, glitzere ich ganz automatisch. Ich betrete also wie jeden Tag glitzernd die U-Bahn, und trotz der müden, leeren Körper, die hier zu einer Vielzahl herumlungern, und keinen einzigen Ton verlieren, fühle ich die starrenden Blicke auf mir. Komplette Stille, nur das Rattern des Zuges. Erst am Nachhauseweg strotzen die Leute vor Energie, nehmen sich alle Freiheit heraus, herumzubrüllen und ihre Telefonate über Sex, langweiligen Bürokram und Kindererziehung können mich zumindest ein bisschen unterhalten. Es ist immer noch die gleiche Welt.
Tag 5
Es regnet. Es regnet kalt und nass. Es ist dieser straßenleerende Regen, der mit seinem Unmut alle Menschen in die Häuser verjagt. Nur mehr er, also der Regen, und ich sind in der düsteren und gruselig stillen Stadt unterwegs. Nur die dicken Tropfen, die schwer auf den Asphalt prasseln und meinen Pullover bis auf den letzten Wollfaden durchnässen. Und meine eilenden Schritte, die in rhythmischen Intervallen das Wasser am Boden blasenwerfend aus den Pfützen drängen. Ich zittere, der triefende Pulli klebt mir auf meiner bibbernden Haut. Was würden sie bloß denken? Und umso kleiner das letzte helle Loch am Himmel wird, umso mehr Angst bekomme ich. Gerade als ich die quietschende Gartentür öffnen will, die der aufbrausende Sturm donnernd gegen die dahinterliegende Betonwand wirft, wird jedes Stück Hoffnung von wahrscheinlich tiefschwarzen Wolken verschluckt. Was wenn sie mich nun verstoßen werden? Und immer wenn ich glaube zu wissen, der Regen könne nicht mehr stärker werden, kommt ein neuer Schwall von oben auf mich herab geschossen, drückt mich ein Stück tiefer in meine Unbeholfenheit. So verharre ich kurz, es macht sowieso keinen Unterschied mehr, so vollgesogen wie ich bin, ich atme tief die feuchte Abendluft ein, die den Geruch des verwaschenen Straßenstaubs angenommen hat. Enttäuscht davon, dass die Luft hier nicht so blumig und erfrischend wie am Land nach einem klärenden Regenschauer riecht, atme ich hüstelnd aus und öffne die schwere Haustür. Was wenn ich gleich alles, was mir noch bleibt, verlieren werde? Ich weiß, ich stehe im Vorraum, auch wenn ich nichts sehe, taste ich mich über die behängte Garderobe zur Wohnzimmertür vor. Ich höre sie, ich kenne ihre Stimmen, ich kenne sie gut und auch wenn sie meinen Namen nicht in den Mund nehmen, weiß ich, dass sie gerade über mich sprechen. Ich zittere, nicht mehr vom Regen. Ich zittere vor Angst. Und bevor ich mit meinem Zittern einen Schmetterlingseffekt auslösen kann, greift meine rechte Hand schnurstracks zur kalten Metallklinge und ich öffne die Türe mit einem Ruck. Es ist totenstill. Jetzt muss ich ihnen alles erzählen, meinen Freunden alles erzählen. Und als sie mich einer nach dem anderen in eine herzliche Umarmung schließen, weiß ich, es ist immer noch die gleiche Welt.
Tag 23
Der mehlige Sand bleibt bei jeder Bewegung an meinen feuchten Po-Backen kleben. Er reibt so lange an meiner gut gepflegten Haut, bis er auftrocknet und abbröckelt, dann ist er nicht mehr feucht, sondern eben nur mehr mehlig. Das sich vor mir erstreckende Meer ist noch immer nass und der Wind trocknet kühl meine mit Gänsehaut übersäten Beine. Auch die sich aufbäumenden Wellen, die regelmäßig an der Küste schäumend zerbersten, geben mir wie eh und je das Gefühl der ohnmächtigen Unendlichkeit. Das Salz brennt in meinen trockenen Lippen. Ich liebe diesen Ort, und obwohl ich weiß, dass ich den Schmerz nicht stoppen kann, schlecke ich über meine Lippen.
Es hilft, lindert für Sekunden mein kleines Leiden, doch dann kommt der nächste Windschub, wie ein Seidentuch, warm und weich, schmiegt er sich um meinen Körper. Selbst das salzige Wasser kann ihm nichts antun. Ich genieße den natürlichen Föhn, räkle mich, die warmen Sonnenstrahlen kitzeln mich auf der Nasenspitze. Ich liebe das Meer noch immer. Das Rauschen erfüllt meine Gedanken, laut und wild, und doch so beruhigend, eine Welle nach der anderen rollt an Land, färbt den Sand feucht und umspielt meine Zehenspitzen. Ab und zu verdecken Möwen für ein Augenzwinkern meinen heißen Energiespender, die Sonne, lassen mich den Schatten auf der Haut spüren und kreischen. Das Kreischen, das Rauschen und meine Gedanken verschmelzen und ich strahle. Die mit mir strahlende Sonne. Die unendlich leere Weite. Der mehlige Sandstrand. Es ist immer noch die gleiche Welt.
Und so versuche ich, in der Hoffnung, alles würde wieder gut werden, mich mit dem Mantra zu belallen:
Es ist immer noch die gleiche Welt.
Es ist immer noch die gleiche Welt.
Es ist immer noch die fucking gleiche Welt.
Ich wünschte bloß, ich könnte sie wieder SEHEN.
Wir danken unseren Unterstützern
Mit Unterstützung folgender Wiener Bezirke:
Für Sponsoringanfragen wenden Sie sich bitte an Margit Riepl unter margit.riepl@gmx.at
Wenn Sie "Texte. Preis für junge Literatur" unterstützen möchten, spenden Sie bitte auf folgendes Konto:
Literarische Bühnen Wien, Erste Bank IBAN: AT402011182818710800, SWIFT: GIBAATWWXXX