Dort drüben
„Du“, sagst du und stößt mir deinen Ellbogen gegen den Arm.
„Was?“
„Du“, sagst du noch einmal, „siehst du? Dort drüben?“
„Nein“, sage ich. Und du siehst ganz kurz zu mir, aber sofort wieder nach dort drüben.
„Du schaust ja gar nicht!“
„Was soll ich schon sehen?“, frage ich, auch wenn ich neugierig bin. Ich will dich ärgern, das ist wichtiger.
„Dann schau halt nicht“, sagst du. Du weißt, dass ich sowieso schauen werde, du kennst mich viel zu gut. So macht das keinen Spaß.
Ich schaue, diesmal wirklich.
„Da ist nichts.“
„Du bist blöd“, sagst du und ich weiß, jetzt bist du beleidigt. Aber diesmal war es nicht mal mit Absicht.
„Was ist denn da?“
„Nicht etwas. Sie.“
„Aha.“
„Du siehst sie wirklich nicht, stimmt`s?“
„Wen sehe ich nicht?“
„Wenn du es wissen willst, mach die Augen zu“, sagst du. Du klingst mitleidig. Also mache ich, was du sagst. Aber ich habe die Augen zu, um etwas zu sehen und ich komme mir blöd vor.
„Und jetzt?“, frage ich.
Du klingst zufrieden, als du sagst: „Jetzt musst du warten. Du wirst sie sehen, ganz bestimmt.“
„Woher soll ich wissen, dass sie es ist, wenn ich sie sehe?“, frage ich und komme mir richtig philosophisch vor.
„Du kennst sie. Aber du hast sie verloren“, sagst du und du hörst dich jetzt traurig an, „Du hast sie schon richtig lange verloren. Aber du hast sie nicht gesucht.“
„Wen?“, frage ich noch einmal. Du wirst darauf nicht antworten, ich kenne dich. Aber du kennst mich auch. Ich bin jetzt zu neugierig, um dich einfach stehen zu lassen. Einfach zu gehen. Dein „dort drüben“ soll auch mein „dort drüben“ werden.
„Was siehst du jetzt?“, fragst du zurück.
„Schwarz.“, sage ich.
„Das meinte ich! Du hast sie verloren.“
„Was siehst du denn, wenn du die Augen zumachst?“
„Eine ganze Menge“, sagst du, „Ich kann alles sehen, was ich will. Ich kann das Meer sehen. Die Sonne, wenn es regnet und sogar dich, auch wenn du gar nicht da bist. Aber ich kann auch ganz andere Sachen sehen. Ein Einhorn zum Beispiel. Ich kann das Einhorn sogar kopfstehen lassen, wenn ich will. Ich kann meine ganze Welt umdrehen. Einfach so.“
Ich spüre, wie du mich ansiehst.
„Hast du das jetzt gesehen?“, fragst du.
„Was? Dein Einhorn?“
„Ja.“, sagst du.
„Ja.“, sage ich. Du umarmst mich.
„Dann hast du sie jetzt wieder“, sagst du und ich weiß, dass du jetzt stolz bist. Auf mich, aber auch auf dich.
„Was macht das Einhorn jetzt?“, fragst du.
„Das sage ich dir nur, wenn du mir sagst, wer sie ist“, sage ich. Ich drehe mich zu dir. Du willst es mir sagen. Oder doch nicht? Ich weiß, wie du jetzt mit dir kämpfst.
„Na gut“, sagst du, „aber du kennst sie wirklich. Sie hat viele Namen. Sie zeigt dir Bilder, sie lässt dich in deinem Kopf tanzen, wenn du stillsitzen musst und wenn du wütend bist, kannst du mit ihr herumschreien, auch wenn du gar nichts sagst. Sie fängt mit F an und alle glauben, dass sie mit ie aufhört, aber das stimmt nicht. Sie hört niemals auf.“
Wir sehen uns an.
„Also, was macht das Einhorn jetzt?“, fragst du.
„Es ist dort drüben“, sage ich, „und es macht einen Kopfstand.“
Du lachst.
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