Fallvon Regina Pizzinini
Pass auf, dass du nicht mit einem Engel kollidierst.
Du weisst, dass du Engel anziehst.
Du weißt genauso gut wie ich, vielleicht sogar noch besser, dass du den Flug anziehst. Dass du dir nichts mehr wünschst, als dich in Höhen zu begeben und allem zu entfliehen. Alles zu vergessen, was auf dieser grausamen Welt geschieht. Du versuchst alles, um diese grausame Realität nicht ertragen zu müssen, um das alles nicht erleben zu müssen, nicht einmal um es nicht leben zu müssen, denn wir wissen beide, dass du das nicht tust. Einfach um es nicht einmal erfahren zu müssen, nicht sehen, fühlen, hören, denken zu müssen. Du möchtest nichts mehr, als den Boden unter deinen Füßen zu verlieren und dich irgendwo in den höchsten Höhen wiederzufinden. Ich weiß, der Gedanke ist verlockend. Vielleicht sogar befriedigend. Eine Zeit lang. Vielleicht sogar eine längere Zeit lang. Vielleicht sogar sehr lang. Du wirst abheben und steigen, und immer weiter steigen. Irgendwann wirst du aufhören zu steigen und schweben. Irgendwo ganz hoch oben wirst du über allem schweben und von oben herab sehen können. Ich weiß, dass du das möchtest. Denn wir alle wissen, dass das Leben aus der Vogelperspektive so klein aussieht. So klein und einfach und die Menschen so furchtbar primitiv. Ich weiß, du wünscht dir nichts mehr als Übersicht und Kontrolle. Du wirst also schweben, hoch oben, wir beide wissen, wenn du dich anstrengst, wirst du diese Höhen erreichen. Und hoch oben wirst du herab sehen und dir deinen Teil dazu denken. Vielleicht sogar deinen Teil dabei fühlen. Du wirst da oben schweben, und den kompletten Überblick haben, vielleicht wirst du manchmal das Gefühl haben, als wäre dein Schwebezustand nicht konstant, nicht stabil. Aber dennoch wirst du nicht fallen, denn wohin sollst du fallen, wenn ein sicherer und überlebensfähiger Weg nach unten viel schwieriger zu finden ist, als der Weg in die Höhen. Es ist immer einfacher einen Berg zu besteigen, als denselben Berg auf sicherem Wege wieder hinab zu steigen.
Aber während du da oben bist, und alles vergisst und dir gleichzeitig niemals so viel klar war und wieder klar werden wird, pass auf, dass du nicht mit einem Engel kollidierst.
Denn heute fallen die Engel von der Erde in tiefere Welten. In Unterwelten. Ihren Weg nach unten bahnen sie sich durch jeden einzelnen Menschen. Sie werden durch uns alle hindurch fallen, werden niemanden unberührt lassen von ihrem erneuten Gehen, doch diesmal verlassen sie nicht ihr Geliebtes, sie verlassen Liebende, Sie Liebende. Wer könnte einen Engel nicht lieben? Und während ein Engel durch dich hindurch fällt, hinterlässt er dir, wenn du Glück hast, vielleicht einen Teil von sich. Solltest du es würdig sein. Aber du musst still dasitzen, darfst dich nicht rühren, du darfst nicht mit einem Engel auf seiner Reise nach unten kollidieren.
Du allerdings, ich kenne dich, sitzt nicht still da. Du bewegst dich in der Gefahrenzone, kommst ihnen in die Quere, in deiner Sehnsucht nach Flug, in deiner Sehnsucht nach Flucht. Du sitzt nicht da und lässt dir etwas geben, du bist schon längst aufgebrochen um es zu suchen. Vielleicht wäre das nicht so schlimm, würden heute nicht Engel fallen.
Denn Engel gibt es heute in diesen Höhen, und der Unsichtbarkeitsmantel, den du um dich geschlungen hast, ist vergänglich, also pass bloß auf, dass du nicht mit einem Engel kollidierst.
Denn wenn du da oben bist und hinunter blickst, vergiss nicht nach vorne zu sehen, vergiss nicht dir mit jeder Sekunde deines Fluges deine Höhenlage zu sichern. Vergiss das bloß nicht. Vergiss nicht, dass heute da oben so viel Verkehr ist wie sonst nie.
Du wirst da oben viel finden. Es wird dich bereichern. Also, flieg, flieg durch die Höhen, flieg hoch oben und schau hinab.
Aber wenn du einem Engel begegnest und er dich als ein unauthorisiertes Flugobjekt erkennt, dann wird der Engel schnell zum Dämon. Er wird dich mit sich reißen und du wirst so lange und so tief fallen, wie du es noch nie zuvor verspürt hast. Du wirst so dermaßen tief fallen, die Höhen in denen du dich befunden hast, werden nichts sein im Gegensatz zu den Tiefen in denen du dich wiederfinden wirst. Du wirst fallen, und im Fall wirst du deine Haare, dein Gesicht, deine Haut und schließlich deine Seele verlieren. Ein Haufen Knochen wird unten ankommen, nach Innen leer, nach Außen nackt.
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