Liebe Mila
Ich sitze seit einer halben Stunde an meinem Schreibtisch, in der rechten Hand halte ich meinen Kugelschreiber und unter meiner Linken liegt das bräunliche Briefpapier. Auf dem Stück Papier stehen bis jetzt nur die Worte „Liebe Mila“, weiter bin ich noch nicht gekommen. Rund um mich liegen ein Dutzend zerknüllte, begonnene Briefe, an denen ich nicht weitergekommen bin oder nicht zufrieden war. Langsam gleitet meine rechte Hand über das Blatt und der Stift setzt auf das Papier auf. Schnell zuckt sie wieder zurück und ein schwarzer Kuli Punkt bleibt zurück. Ich setze nochmal an und ohne viel nachzudenken beginne ich zu schreiben:
Vielleicht findest du Briefeschreiben altmodisch, aber ich fand es irgendwie am einfachsten, es dir so zu sagen. Mein Vater hat vor einigen Wochen ein Jobangebot in Australien als Firmenchef bekommen. Meine Eltern haben entschieden, dieses Angebot anzunehmen. Und mir fällt es nicht leicht zu sagen, aber am Anfang der Sommerferien ziehen wir nach Canberra. Mir wurde klar, dass wir uns ab dann nicht mehr so oft persönlich sehen können. Und glaub mir ich wollte am Anfang deshalb hierbleiben und meinetwegen auch allein leben, aber meine Eltern konnten mich irgendwie dazu überzeugen mitzukommen. Ich habe, seit die Entscheidung gefallen ist viel über uns nachgedacht und über die schönen Momente, die wir zusammen hatten (auch über die schlechten). Als wir uns kennenlernten waren wir 11 jetzt sind wir 15 und 16 und so viel Zeit ist dazwischen vergangen und so viel ist passiert, was uns zusammengeschweißt hat. Und ich weiß, auch wenn wir jetzt dann 15. 915 Kilometer (ich habe nachgeschaut) voneinander entfernt leben, dass ich dich nicht verlieren will. Und ich hoffe, dass wir uns in den Ferien besuchen können und wir trotz der acht Stunden Zeitverschiebung oft telefonieren können. Und ich hoffe, dass du mich verstehst und nicht sauer auf mich bist. Und ich wünsche mir, dass dieser neue Abschnitt in meinem Leben kein Ende für uns ist.
Hab dich lieb!
Deine Beste Freundin
Laura
Ich falte den Brief dreimal, so dass er in das Kuvert passt, öffne das Kuvert, gebe das Blatt hinein, ziehe den Schutzstreifen vom Kleber hinunter und verschließe es. Auf die Rückseite schreibe ich Milas Namen und ihre Adresse und ziehe die hellblaue Briefmarke von dem Zehn-Marken-Blatt ab. Mit dem Kuvert mit der hellblauen Briefmarke stehe ich auf und gehe hinaus auf die Straße zum nächsten Briefkasten. Ich schließe meine Augen, atme einmal tief durch und lasse den Brief schweren Herzens in den Schlitz vom Briefkasten hineinfallen.
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