Patronenvon Patrick Green
Er küsst Maria ein letztes Mal.
Vor dem Stall ist es noch finster, schwarze Bäume, dunkelblauer Himmel, letzte Schneeflecken
leuchten aus dem Geäst.
Er steht mit Maria vor dem Stall, noch immer umschlungen, sie klammert sich an seine grobe
Uniformjacke.
"Ich muss jetzt gehen Maria. "
"Johann, die Uniform, wenn sie dich finden, nimm nicht die Uniform, wenn sie dich finden in
der Uniform dann. . . "
Stille, nur das gleichmäßige, eisige Strömen im Wald, die Vögel singen im Februar nicht, und die
Bäche fließen nicht.
Ihre Gesichter sind nahe beieinander, die Atemwolken sind so dicht, dass er ihre Züge fast nicht
erkennen kann.
"Was soll ich sonst anziehen, es ist so kalt, ich muss weit laufen. "
"Kannst du nicht-"
Schüsse.
Sie hallen entfernt vom oberen Talende her.
"Lauf Johann, lauf. "
Rau, rau und hart klingen Marias Worte, wie die Schüsse, und Johann läuft.
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"Gehst' wieder Bierdeckeln suchen Artur? "
Franz sitzt mit seinem dritten Morgenkaffee im spärlichen Vormittagsschatten unter der Linde
und raucht eine Zigarillo; trotz seinen 64 Jahren lässt er diese Gewohnheit nicht sein, mahnende
Worte gehen ihm genauso auf die Nerven wie Artur der Spott über sein neues Hobby.
Der schultert seinen Metalldetektor und nimmt eine Schaufel in die Hand.
"Geduld und Beharrlichkeit sind die Tugenden eines Schatzsuchers, lieber Großonkel. "
Im Vorbeigehen nimmt er Franz die Zigarillo aus der Hand und zieht einmal daran, dann
schreitet er, den Rauch aus der Nase blasend, den schmalen Schotterweg hinunter, der zum Wald
führt.
"Übrigens waren es zum Großteil sehr, sehr alte Bierdeckel! ", ruft er noch über die Schulter.
"Ah geh bitte, deine keltischen Bierdeckeln. . . "
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Obwohl keine Schüsse mehr fallen, läuft Johann, läuft grimmig durch den Wald, dessen
Konturen sich langsam gegen den Himmel abzeichnen. Der Boden federt, ist voll mit feuchten,
toten Ästen.
"Gut, dann hören sie mich schlechter. "
Johann ist erschöpft von den letzten Tagen, dauernd in Angst, dauernd auf der Hut.
Und doch, wie er so über den klammen Boden hastet, zwischen den toten Ästen und eisigen
glatten Wurzeln, gleichmäßig atmend, denkt er völlig klar.
Die Luft ist so kalt, dass ihm das Atmen wehtut, seine Springerstiefel werden nach jedem Tritt in
einen der fahl leuchtenden Schneeflecken feuchter. Als er vor drei Jahren eingezogen worden
war, hatte der Offizier ihm gesagt: "In diesen Stiefeln werden wir die Welt erobern! "
Bitteres Grinsen, der kleine Offizier mit dem braunen Schnurrbart, der ist oben auf der Alm,
dort, wo die Schüsse waren. Die Flugblätter, die von feindlichen Fliegern abgeworfen wurden,
versprachen ein neues Land, wenn man sich bloß ergeben würde. Johann fragt sich zum ersten
Mal, ob er dieses neue Land je sehen wird. Er erschrickt über diesen Gedanken, erschrickt, dass
er ihn gerade gedacht hat.
Es ist jetzt ganz hell, der harte blaue Februarmorgen spannt sich durch den frostüberzogenen
Fichtenwald und verwandelt ihn in ein monochromes Gemälde, gestört nur von dem Mann in
der grünen Uniform, der den Hang hinunter läuft.
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Artur zerschlägt die fünfte Bremse auf seinem schweißnassen Rücken, sein T-Shirt hat er nach
dem dritten Loch ausgezogen; die jetzt, im August, massenhaft herumschwirrenden Insekten und
ihre Stiche nimmt er in Kauf, der Waldboden ist voller Wurzeln und in der Hitze anstrengend
aufzugraben. Ein Nagel, eine alte Tube Sonnencreme und ein völlig durchgerostetes,
undefinierbares Stück Eisen hat er bis jetzt gefunden, doch das dämpft seine Laune nicht. Seit er
letzten Monat den heiß ersehnten Metalldetektor zum sechzehnten Geburtstag bekommen hat,
ist er jeden Tag, bei jedem Wetter im weitläufigen Wald herumgezogen, Loch für Loch,
Bierdeckel für Bierdeckel.
Und schwenkt weiter den Detektor über dem trockenen, duftenden Waldboden, Schweißperlen
auf der Stirn und Fichtennadeln in den Schuhen. Eine Zeit lang geht er versunken so weiter, das
Gerät schlägt nicht an, ziellos wandert er in der Mittagshitze umher, den Blick auf den Boden
fixiert, die Schaufel über der Schulter.
Bis er abrupt vor dem steilen Abhang stehenbleibt, der sicher fünfzig Meter abfällt, eine mit
hohen, geraden Fichten durchsetzte steile Fläche, am unteren Ende felsigen Klippen, auf denen
Artur als Kind mit seinem Bruder Mooshäuser gebaut hatte. Ihm geht durch den Kopf, dass er
dort unten noch nie gesucht hat. Vorsichtig, Schaufel und Metalldetektor balancierend, beginnt er
den Hang hinunterzusteigen.
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Johann spürt, dass er müde wird, in das gleichmäßige, gleichmütige Hasten mischt sich
schleichend bleierne Aussichtslosigkeit.
"Wie lang willst du noch durch den Wald hetzen, Johann? "
"Lauf Johann, lauf"
"Du frierst, trotz dem Laufen, deine Schuhe sind nass, irgendwann wirst du einfach umfallen und im feuchten
Mantel verrecken, und wenn nicht, wenn du ehrlich bist, die Russen kriegen dich sowieso. "
"Lauf Johann, lauf"
"Geh runter zum Dorf, wirf dein Gewehr in den See, ergib dich. Vielleicht lassen dich die Russen dann leben. "
Der Wald wird lichter, er sieht, er sieht nicht auf den Boden, nicht geradeaus, wohin sieht er?
"Nein, die Russen werden dich töten"
Er sieht die Russen, er sieht sich mit Kopfschuss in eine Grube fallen, tot.
"Tot"
"Lauf Johann, lauf"
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Artur steht endlich unten bei den rauen, mit Moos und Flechten überzogenen Schieferfelsen.
Ohne sich auszuruhen beginnt er zu graben, doch schon dicht unter der Moosdecke macht seine
Schaufel das hässlich Geräusch, dass entsteht, wenn Metall auf Stein schlägt, und aus der
aufgerissenen Erde leuchten die weißen Kratzer im Schiefergestein.
Ein bisschen erschöpft vom wuchtigen Schlagen mit der Schaufel hockt er sich auf einen Stein
und zündet sich mit einem Streichholz eine Zigarette an, bläst den Rauch aus, der in dünnen
Wolken in der Sonne schwebt.
Er verweilt eine Zeit lang so, behaglich rauchend auf den warmen Steinen, träge.
"Vielleicht geh ich jetzt dann zurück zur Hütte, war jetzt sicher drei Stunden unterwegs. "
Er beobachtet noch kurz die Rauchschwaden, in die die Sonne zitternde, fransige Muster durch
die Äste projiziert. Dann dämpft er die Zigarette aus, gibt sich einen Ruck, genug für heute.
"Hier kann man eh fast nirgends Graben. "
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Johann spürt Stein und gefrorene Moospolster unter seinen Füßen, das Laufen, das Stechen der
kalten, trockenen Luft in der Brust spürt er nicht mehr. Den Drang zu laufen, zu fliehen spürt er
nicht mehr, seine Schritte werden schleppend, schleifen auf dem Boden, vereistes Moos blättert
ab und fällt raschelnd die Felsen hinab.
"Lauf, Johann"
"Es geht nicht, es geht nicht mehr, nein. . . . Nein. "
Sein Kopf fällt in den Nacken, er bleibt stehen.
Und sieht oben, weit oben, den fahlblauen Himmel, in den unzählige fein verzweigte Äste
hineingreifen, grau vom Winter, und der Himmel ist so hell, dass die Eiskristalle auf den Ästen
glitzern, bei jeder allerkleinsten Bewegung durchläuft ein graublaues, zartes Schimmern die
Baumkronen, es hört nicht auf, es fängt nicht an.
Und er findet es schön, so schön, dass er nicht weg will von dieser Schönheit, nein, von aller
Schönheit, noch nicht, er will nicht dass sie aufhört, er will nicht, dass er aufhört.
Er will laufen.
Er reißt sich los von dem betörenden Muster, dass sich über ihn spannt.
Er senkt den Kopf, blickt wieder nach-
Erstarrt.
Nein.
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"Nein"
Artur nimmt den Metalldetektor wieder von der Schulter.
"Ich muss übermorgen wieder nach Hause, ich werd' morgen keine Zeit mehr haben, und ich werde jetzt so lange
weitersuchen, bis ich irgendwas gescheites finde, und wenn ich die ganze Nacht lang suchen muss, ich werd' mir
vom Franz keinen einzigen Bierdeckelwitz mehr anhören! "
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Wie hat er ihn nicht sehen können, wie?
Man hätte ihn vom ganzen Hang aus sehen können, trotz der braunen, schmutzigen Uniform.
Ein Bub, nicht älter als sechzehn, steht fünf Schritte vor ihm, mit weit aufgerissenen Augen,
schnell atmend, die Atemwolken stechen hektisch in die Luft.
Johann bewegt sich nicht.
Der Bub sagt etwas mit überschlagender, panischer Stimme.
Johann bewegt sich nicht.
Die Uniform hängt dem Russen von den schmächtigen Schultern, seine vereisten, kurzen Haare
stehen wirr vom Kopf ab, er sieht hilflos aus, trotz des Gewehrs, dass er schützend, mit
zitternden Händen vor sich hält.
"Aber zielen kann er. "
Der Wald ist stumm, der Wald ist stumm und Johann denkt nichts mehr.
Denken macht langsam.
Stumm, nur das monotone, allgegenwärtige Brausen.
Reißen, ein Ast knackt, die blaue Stille zerbirst, der Bub zuckt, Johann reißt sein Gewehr hoch.
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Artur reißt seinen Metalldetektor hoch, endlich, ein Signal, noch dazu bei einem recht großen
Erdeinsprengsel zwischen den Felsen.
Er lehnt das Gerät an einen Baum und rammt die Schaufel mit dem Fuß in die Erde.
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Es ist wieder still, sie stehen da, so nahe, dass sich ihre Atemwolken in der Mitte fast treffen,
beide mit angeschlagenem Gewehr, beide haben so Angst, dass es mehr schmerzt als die
klirrende Luft in der Kehle.
Johann denkt an das Bild über ihm, die Schönheit, er denkt an Maria.
"Leben Johann, du musst leben"
Der Bub weint.
"Leben, du kannst nicht anders, es geht doch nicht anders. . . Maria, sie braucht dich, sie liebt dich. "
"Schieß"
Johann umschließt die Waffe fester.
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Zwischen einem staubigen, wurzeligen Erdbrocken steckt etwas, Artur wirft die Schaufel hin.
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"Schieß! "
In ihm wallt es auf.
"Schieß und lauf weiter, erschieß ihn, den Russen, lauf, erschieß. . . den Buben, für Maria, renn, Maria, das Kind,
erschieß es-"
"Erschieß das Kind. "
Johann zielt zwischen die Augen, der Russe soll nicht leiden, er kann ja nichts dafür, das Kind
kann nichts dafür.
"Das Kind kann nichts dafür. "
Sinnlos.
"Du kannst nicht fliehen, Johann, nur laufen"
Er sieht dem Buben ins Gesicht, eine gefrorene Träne hängt an seinem Kinn.
"Du wirst es nicht schaffen. Es ist so. "
Aufatmen, Ruhe, auf einmal.
"Du wirst es nicht schaffen. Und du kannst nicht den Buben erschießen, du willst nicht den Buben erschießen,
was warst du dann, wenn du ein Kind tötest, Maria, an was wird Maria denken, was war dann die Bedeutung
von dir, was war dann die Bedeutung, dann, wenn du. . . "
"Dann. . . "
Der Bub hat aufgehört zu weinen.
"Lass einfach das Gewehr langsam sinken, der Bub schießt nicht, er hat keine Ahnung, nur Angst, so viel
Angst. "
Johann schaut dem Buben in die Augen, senkt langsam sein Gewehr.
Lässt die Patrone aus dem Lauf schnappen, es klackt.
Der Bub zuckt.
Kein neues Land.
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Artur rennt mit seinem Fund durch den Wald, überschwänglich rast er zur Hütte, die zwei
Fundstücke sorgfältig in der Faust.
"Fraanz! Juuuhuuu! Ha! Schau, ich hab's ja gesagt, Geduld und Beharrlichkeit! "
Franz hievt sich aus einer Hängematte, die vor der Hütte hängt, und schlurft, mäßig begeistert,
aber interessiert, zum schnaufenden Artur, der ihm seine offenen Hände entgegenstreckt, fragt
gutmütig:
"Was hast' denn gefunden? "
"Schau! "
"Zeig amal her, mhh, das is', das schaut aus wie. . . "
"Zwei Patronen, echte! Und keine von Jägern, wahrscheinlich vom Bundesheer, aber alt"
Franz begutachtet die beiden Stücke eine Zeit lang, wendet sie in den Händen, Artur steht mit
übermütig leuchtenden Augen daneben.
"Nein Artur, das is' ned vom Bundesheer, das schaut älter aus, ich würd' sagen zweiter Weltkrieg.
Na bist du g'scheit, jetzt hast doch noch was g'funden. "
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Johann blickt wieder ins feine, graue Geäßt, die flach einfallende Morgensonne fällt jetzt darauf,
sie färbt die dünnen Äste, die, die ganz oben sind, gelb, es erinnert ihn an Marias Haare.
Er kann sie fühlen.
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Artur ist wieder in der Stadt, Zuhause.
Eine Woche sind noch Ferien, er trifft sich mit einem Mädchen, er hat sie auf der
Schullandwoche vor den Ferien kennengelernt.
Sie sitzen am Flussufer in der Abendsonne, über dem ruhig fließenden, goldenen Wasser
schwirren tausende Mücken.
Sie sitzen schon recht lange so da und reden, erzählen von ihren Ferien, von sich, rauchen, halten
die Füße ins Wasser.
"Was hast du da eigentlich um den Hals hängen? "
Artur zieht die Kette unter seinem Hemd hervor.
"Eine Patronenkugel. "
Sie, leicht missbilligend:
"Aha"
"Die hab ich draußen bei der Hütte im Wald gefunden, weißt schon, mit dem Metalldetektor, hab ich dir eh
erzählt dass ich den gekriegt hab"
"Und nach ewigem Suchen hab ich die gefunden. Also eigentlich hab ich zwei gefunden, eine ungebrauchte mit der
Kugel drinnen und eine verschossene, ziemlich nah beieinander. "
"Also mit einer ist geschossen worden und mit einer nicht. "
"Ja, die ungeschossene Kugel hab ich dann runtergedreht mit einer Zange und sie gesäubert und den Anhänger
daraus gemacht. "
Sie dreht sich mehr zu ihm hin,
"Warum eigentlich, hat das irgendeine Bedeutung, ich mein außer dass du's gefunden hast? "
Artur dreht die Kugel in seinen Händen, schweift mit dem Blick übers Wasser, sieht dann wieder
zu ihr:
"Ich weiß nicht, zwei Patronen aus dem zweiten Weltkrieg, eine davon verschossen, die andere nicht, einmal wurde
geschossen, einmal nicht.
Das hat sicher irgendeine Geschichte, eine arge Geschichte, und alles aus einer argen Geschichte hat eine
Bedeutung. "
Es ist kurz leise, das Wasser ist jetzt dunkel, die Mücken sind weg, die Landschaft wirkt jetzt in
dem veränderten Licht wie eine andere; eine neue. Denkt sich Arthur, und merkt, dass er sich
nicht mehr von ihr abwenden kann.
"Und dass find ich vielleicht so schön, der Anhänger hat eine arge Geschichte und eine arge Bedeutung, aber ich
werd sie nie kennen, ich werd nie wissen welche Bedeutung, ich werde oft darüber nachdenken, aber ich werde nie
wissen, was ich um meinen Hals hängen hab. "
Sie dreht sich jetzt ganz zu ihm hin, ihre Haare leuchten in der flachen einfallenden Abendsonne
Gelb.
"Das ist voll schön".
Und dann küsst er Maria zum ersten Mal
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