Sonnenfinsternis
„…dann können Sie sich zurücklehnen und das Naturschauspiel genießen, wenn wir am Mittwoch Zeugen der ersten totalen Sonnenfinsternis über Österreich seit mehr als einem Jahrhundert werden.“
Gebannt starre ich auf den Bildschirm, gefesselt von den Lippenbewegungen des Nachrichtensprechers, wie er die Zuschauer zum wiederholten Mal an das spannende Ereignis dieser Woche erinnert.
„Sieh doch, Margret. Ist das nicht unglaublich?“, flüstere ich ohne einen Blick auf meine Frau, die neben mir liegt, den Kopf auf meinem Schoß ruhend.
Keine Antwort
Ich sehe sie an. Ihre Augen sind geschlossen. Unwillkürlich muss ich lächeln. Wie schön sie doch ist. Schlafend. Das schmale Gesicht, die langen Wimpern, die süßen Sommersprossen und diese Lippen. Diese vollen, roten Lippen, mit denen sie mich bezauberte, als wir uns zum ersten Mal trafen, damals, vor fünf Jahren. Nur diese Begegnung, diese eine Begegnung, und ich wusste es. Das war sie. Auf sie hatte ich gewartet, viele Jahre, ohne Erfolg. Und dann war sie da.
„…mit einer wahrscheinlichen Dauer von rund zwei Minuten…“
Porzellanhaut umrahmt von dichtem, hellblondem Haar. Liebevoll streiche ich ihr eine Strähne aus der Stirn und küsse sie sanft auf den Mund. Mit all meinen Sinnen erspüre ich die vollendete Zartheit. Vorsichtig lege ich ihre Hand in die meine. Es gibt tatsächlich keinerlei Zweifel – Sie ist es, sie ist die Eine. Und ich wusste von Anfang an, wir würden zusammen bleiben.
„…Der Totalitätsstreifen wird über Europa ziehen und zu dem seltenen Ereignis führen…“
Ich liebe sie über alles. Wir hatten immer ein schönes Leben. Unser Leben. Ein eingeschworenes Team.
„…so wird die nächste totale Sonnenfinsternis über Mitteleuropa erst wieder im Jahr 2081 stattfinden, was die Einmaligkeit des Ereignisses…“
Und dann. Wie ein Blitzschlag. Plötzlich ist alles anders.
Ich weiß noch wie sich alles zusammenschnürte, meine Eingeweide sich verkrampften, als ich die beiden zusammen sah, wie sie sich in einem Kaffeehaus unterhielten. Umarmten. Und küssten.
Auch wenn mir das Geschehene schier unmöglich schien, war das Licht unserer Gemeinsamkeit mit einem Mal erloschen.
„…also, liebe Zuseher: Ab zum nächsten Geschäft, um noch eine der letzten Schutzbrillen zu ergattern!“
Meine Finger, die immer noch Margrets zarte Hände umschließen, drücken fester zu. Ohne in den Spiegel zu sehen, spüre ich wie mein Blick erstarrt, während ich weiterhin beobachte, wie sie so still daliegt. Es war ein Ausrutscher, flüstert eine Stimme in mir, nichts weiter. Eine einmalige Sache. Nun ist alles wieder gut.
„…dann heißt es: Ab nach draußen und das Schauspiel genießen!“
Erst jetzt fällt mir auf, wie eiskalt Margrets Hände sind. Ich darf, kann sie nicht mehr loslassen. Mit der anderen Hand streichle ich ihre Wangen, ihr Kinn, ihren Hals mit den hervorstechenden rot-blauen Malen. Liebevoll beuge ich mich erneut zu ihr hinab und küsse zärtlich ihre schönen, leblosen Lippen.
Wir danken unseren Unterstützern
Mit Unterstützung folgender Wiener Bezirke:
Für Sponsoringanfragen wenden Sie sich bitte an Margit Riepl unter margit.riepl@gmx.at
Wenn Sie "Texte. Preis für junge Literatur" unterstützen möchten, spenden Sie bitte auf folgendes Konto:
Literarische Bühnen Wien, Erste Bank IBAN: AT402011182818710800, SWIFT: GIBAATWWXXX