Weißt du noch
Weißt du noch,
als wir hinter ihnen herjagten? Den weißen Türmen des Himmels. Uns auf die goldenen Felder legten und du mir von den Wolken Geschichten erzähltest. Von Prinzen und Prinzessinnen. Elefanten und Giraffen. Wie ein Bilderbuch hast du den Wolken ihre Geschichten gegeben.
Weißt du noch,
wie sie Tag um Tag darauf gewartet haben, dass es besser wird? Mit den weißen Männern geredet haben und mich an sich gedrückt haben. Sie sagten mir immer: Es wird besser. Ich habe ihnen geglaubt. Sie sagen es immer noch.
Weißt du noch,
wie sehr ich mich vor dem Tod gefürchtet habe, als ich klein war? Du hast gemeint, dass wir in die Wolken kommen, wenn wir sterben. Du wolltest sicherstellen, dass meine Wolke flauschig und weich und angenehm ist, wenn ich dort ankomme. Wie kannst du dich daran nicht erinnern?
Weißt du noch,
als ich Hals über Kopf von den Ästen der Bäume hing und darauf wartete, dass jemand kommen würde, um sich um mich zu kümmern? Sich darum zu sorgen, dass ich mich verletzen könnte, wenn ich fallen würde? Du hast immer gesagt, Fallen ist in Ordnung, wenn man wieder aufsteht. Warum stehst du dann nicht mehr auf?
Weißt du noch,
wer ich bin? Kennst du meinen Namen? Siehst du mein Gesicht und weißt, wer ich bin? Die Person im Spiegel ist dir fremd. Bin ich es auch? Oder siehst du mich an und weißt wer ich bin, aber kannst nichts sagen?
Weißt du noch,
die guten Tage, an denen du wusstest, was elf minus drei ist? An denen du wusstest, dass die Milch in den Kühlschrank gehört und nicht ins Regal.
Weißt du noch,
die schlechten Tage, an denen ich dich auf der Straße sah? Dich grüßte. Und du dich umdrehtest und gingst?
Nein.
Du weißt nicht mehr,
als wir auf der Brücke standen. Die Herbstblätter fielen und ich dich fragte, wie Leben geht. Du kannst dich nicht an das erinnern, was du gesagt hast. Dass man nicht lebt, solange man Wasser nicht schmeckt. Wasser schmeckt nach nichts, habe ich gedacht. Du sagtest, ich solle Momente nicht erst dann schön sein lassen, wenn sie bereits zu Erinnerungen geworden waren. Du sagtest: Höre Menschen zu, um zu verstehen. Nicht um zu antworten. Verstehst du denn noch?
Du weißt nicht mehr,
dass ich dich immer besucht habe. Dir deine Lieblingsblumen gebracht und von deinen Erinnerungen erzählt habe.
Du weißt nicht mehr,
als du sagtest: Vergiss nie, dass ich dich liebe. Auch dann nicht, wenn ich es vergessen habe. Hast du es vergessen? Sieh mich an und sag mir, dass du weißt, wer ich bin, auch wenn du dich nicht daran erinnern kannst, dass du gerade gegessen hast, und dass noch nicht Schlafenszeit ist. Sag mir, dass du mich liebst, auch wenn du nicht weißt, warum du es sagen sollst. Sag mir, dass du mich liebst, weil ich dich liebe.
Du weißt nicht mehr,
wie oft du sagtest, dass du mich liebst. Wie konntest du mich dann vergessen? Hast du gelogen? War ich nicht wichtig genug?
Und du weißt nicht mehr,
dass ich dir versprochen habe, nie zu vergessen, dass du mich liebst, auch wenn du mich längst vergessen hast.
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