Weitblickvon Helene Rauch
Dort vorne, auf der Bank an der Straßenecke, sitzt ein Mädchen. Eigentlich sitzt es einfach nur da und starrt auf den Boden vor sich. Es hat sich die Kapuze vor die Stirn gezogen und umschlingt seine Knie mit den Armen, während es auf dem kalten Holz kauert. Eine Strähne seiner rotbraunen Haare hat sich gelöst und hängt neben seinem Gesicht.
Es schaut nach unten, immer nur nach unten. Traurig sieht es aus, traurig und verlassen, wie es so alleine auf der Bank sitzt und sich nicht bewegt. Seine Augen liegen im Schatten der Kapuze, seine Arme sind so kurz, dass die Hände in den Ärmeln der Jacke verschwinden. Es fragt sich, ob er wohl kommen wird. Ob er wohl diesmal kommen und sie abholen wird.
Es lacht. Es lacht, weil man in der Wasserlacke vor der Bank den Himmel sehen kann. Es lacht, weil es nach oben schauen kann ohne den Blick zu heben. Das Mädchen sieht den Himmel. Er ist blau, so blau wie seine Augen, die von der Kapuze verdeckt werden. Manchmal, wenn der Wind über die Wasseroberfläche streift, macht der Himmel kleine Wellen. Kräuselt sich wie die Locken des Mädchens, die es unter der Jacke versteckt.
Vielleicht wird er diesmal kommen. Er weiß, dass es auf ihn wartet. Vielleicht wird er plötzlich vor der Bank stehen. Und weil das Mädchen das hofft, will es den Blick nicht heben, will nicht sehen, dass außer ihr niemand da ist.
Lange sitzt es auf der Bank und schaut in den Himmel hinunter, so lange, bis irgendwann Wolken aufziehen. Wolken, so weich wie die Wangen des Mädchens, die vor lauter Kälte rot angelaufen sind. Da steht es auf, zum ersten Mal, und läuft ein Stück nach links. Es zieht die Kapuze nicht hoch, hebt den Blick nicht, obwohl es jetzt den Himmel nicht mehr sehen kann. Suchend sieht es sich um, dann läuft es ein Stück nach rechts und kniet sich auf den Boden. Konzentriert schiebt es die Ärmel nach oben, gerade so weit, dass die schmalen Hände zum Vorschein kommen.
Hände, so klein wie die Blätter, die es mit ihnen aufhebt und behutsam zur Bank zurückträgt.
Das Mädchen kauert sich auf den Boden neben die Lacke und platziert ein Blatt so, dass es genau auf einer Wolke liegt, die sich im Wasser spiegelt. Zufrieden klettert es wieder auf die Bank. Das Blatt liegt nicht mehr auf der Wolke. Da es sich aber nicht bewegt hat, muss wohl die Wolke weitergezogen sein, und das Mädchen lacht, weil es das bemerkt hat. Dass sich die Wolke bewegt hat, während es auf die Bank geklettert ist.
Es hat noch ein paar Blätter, und es legt sie vorsichtig neben sich auf, um eines nach dem anderen hinunterzuwerfen. Es will die Wolke treffen, doch die Blätter fallen nicht so, wie es sie wirft. Sie segeln, segeln wie alle anderen Blätter, die der Wind von den Bäumen weht. Wie die Blätter, die es sehen würde, wenn es aufschauen würde.
Irgendwann liegen alle Blätter in der Lacke, und es sind so viele, dass das Mädchen die Wolke nicht mehr sehen kann. Irgendein Blatt muss jetzt auf ihr liegen, sonst könnte es die Wolke sehen, und obwohl es das war, was es wollte, gefällt es ihm nicht. Weil es den Himmel nicht mehr sehen kann. Dafür müsste es jetzt nach oben schauen, und weil es das nicht will, steigt es wieder hinunter und fischt alle Blätter aus dem Wasser, eines nach dem anderen. Nass liegen sie neben der Wasserlacke, so nass wie die Hände des Mädchens, die es sich an seiner Hose abwischt. Die Wolke ist verschwunden. Das Mädchen klettert hinauf, und da sieht es sie, am oberen Rand, fast schon nicht mehr in der Lacke.
Weil es jetzt keine Wolken und keine Blätter mehr gibt, sitzt es wieder nur da und starrt in den Himmel zu ihren Füßen. Vielleicht wird es auch noch abends dort auf der Bank an der Straßenecke sitzen und die Sterne in der Wasserlacke zählen. Sterne, so zahlreich wie die Sommersprossen im Gesicht des Mädchens, die mit der Röte seiner Wange verschmelzen. Wie die Sterne mit den Wolken in der Wasserlacke.
Man kann nicht für immer in den Himmel schauen. Und als das Mädchen endlich den Blick hebt, sieht es den leeren Lichtkegel der Straßenlaterne.
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