Wortflutvon Julia Lückl
Das Wasser steigt. Bis zum Hals steigt es. Nur gesehen habe ich es noch nicht, nur davon gelesen. Man liest ja täglich, soll die Wahrheit kennen, den Überblick behalten. Den Weitblick behalten. Also lese ich jeden Tag. Sehe die schwarzen Lettern auf dem weißen Papier. Das Wasser steigt, steht da. Jeden Tag. Das Wasser steigt immer höher.
Es ist schon länger her, dass ich das mit dem Wasser erfahren habe. Damals habe ich mich gewundert. Habe aufgesehen. Habe den Blick schweifen lassen und nach dem Wasser geschaut. Gesehen habe ich nichts. Aber es stand da: Immer mehr wird es sein. Immer mehr wird kommen. Wie ein Meeresstrom, der alles mitreißen wird. Das Wasser steigt. Schwarz auf weiß stand es da. Und was schwarz auf weiß dasteht, das stimmt. Sagt man.
Ich habe dann an die Redaktion geschrieben, in schwarzen Lettern, mit vielen Fragezeichen. Habe geschrieben, dass ich es nicht sehen kann, das Wasser. Habe gefragt, ob sie sicher sind. Antwort habe ich keine bekommen. Nur noch mehr Schlagzeilen. Jeden Tag. Jeden Tag eine neue Schlagzeile.
Die Schlagzeilen sind größer geworden. Immer größer und bunter auch. Ich muss sie nicht mehr lesen. Sie springen mich an, wenn sie vor mir liegen. Werden zu den leisen Stimmen, die immer lauter werden. Schreien mich an. Sagen mir, dass alles zusammenbricht. Dass das Wasser uns alle ertränken wird. Uns alle. Und ganz besonders mich.
Gesehen habe ich es trotzdem nicht.
Aber kalte Füße habe ich bekommen von dem ganzen Wasser. Konnte richtig spüren, wie die Füße kalt werden und alles zu zittern beginnt. Habe begonnen, die Schlagzeilen zu sammeln. Behalte sie alle. Häufe sie an. Direkt vor mir. Schaue zu, wie die Worte zu Wörtern, zu Wortfetzen zerreißen. Wie der Text immer kürzer, die Bilder immer größer werden. Und die Schlagzeilen auch.
Man muss mit Weitblick handeln, steht da. Mit Weitblick das Wasser bekämpfen.
Deshalb habe ich angefangen zu bauen. Mit den Schlagzeilen zu bauen. Ich bin fleißig, mache keine Pausen, nie mache ich Pausen. Sie müssen doch fertigwerden, die Mauern. Was soll sonst werden, wenn ich so ganz alleine dastehe, ungeschützt? Ungeschützt, das habe ich gelesen, schwarz auf weiß habe ich das gelesen. In riesigen Lettern stand es da. Kein Schutz. Die Dämme halten nicht mehr. Aber das Wasser steigt weiter, steht schon bis zum Hals. Auch wenn ich es nicht sehen, nur spüren kann. Ja, spüren kann ich es schon. Also baue ich jetzt selbst. Einen Schutzwall. Meinen Schutzwall aus den Schlagzeilen.
Ich habe lange gebaut. Viel gebaut. War erschöpft, aber froh, weil die Mauern wachsen. Meine vier Mauern. Sie waren dann schon ganz hoch. Ich konnte nicht mehr hinüberblicken, da war nur noch ein kleines Loch ganz oben. Sonst war es dunkel. Zuerst wollte ich das Licht behalten, das bisschen Licht von oben. Aber die Schlagzeilen sind immer lauter geworden.
Es war dann ganz dunkel, stockfinster, dort drinnen in meinen vier Mauern aus Schlagzeilen. Ich saß dort allein, sitze dort allein. Zwischen den Wortfetzen. In meiner eigenen Welt. Eigens erschaffen. Selbstgebaut aus fremden Worten, Gedanken. Aber geschützt und sicher. Alles was mir gehört, alles bei mir. Eingemauert. Gerettet. Auch die Schlagzeilen, die ich noch hören kann, wie sie leise wimmern. Nicht Weltschmerz nennt man das, Wortschmerz nennt man das.
Wenn ich ihnen zuhöre, dann denke ich an das Wasser. Das da draußen sein muss. Denke an die trockenen Füße, die trotzdem kalt bleiben. Auch wenn ich jetzt hier drinnen bin. Sage mir, dass alles gut ist. Dass nichts passieren kann, nicht hier, in meinen vier Mauern, meiner schönen, neuen Welt. Dann sage ich mir, dass ich stolz bin, stolz und zufrieden. Denke an den Weitblick, den man beim Lesen gewinnt. Ja, an den Weitblick. Nur manchmal frage ich mich, was wohl aus dem Draußen wird, was wohl dort draußen passiert. Aber das nur ganz selten.
Wir danken unseren Unterstützern
Mit Unterstützung folgender Wiener Bezirke:
Für Sponsoringanfragen wenden Sie sich bitte an Margit Riepl unter margit.riepl@gmx.at
Wenn Sie "Texte. Preis für junge Literatur" unterstützen möchten, spenden Sie bitte auf folgendes Konto:
Literarische Bühnen Wien, Erste Bank IBAN: AT402011182818710800, SWIFT: GIBAATWWXXX